"Wordle": Bitte gib mir nur ein Wort (2024)

"Wordle" zieht um in illustre Rätselnachbarschaft: zur "New York Times". Der Erfolg des kleinen Spiels liegt in seinem Spielverlauf, der Halt gibt in unsicheren Zeiten.

Von Maja Beckers

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Wenn man sich fragt, was von dieser seltsamen Pandemiezeit einmal bleiben wird, ahnt man ja mittlerweile, dass es womöglich nicht große politische Umwälzungen sind, sondern eher eine Menge Kleinigkeiten. Dinge, die sich im Pandemiealltag entwickelt haben und überdauern. Und zu diesen Kleinigkeiten gehört nun aller Wahrscheinlichkeit nach auch Wordle.

Twitter ist voll mit Posts der grünen, grauen, gelben Kästchen, mit denen die Spieler ihre Ergebnisse teilen, und man hört, einige haben das tägliche Wordle bereits in ihre Morgenroutine eingebaut. Das kleine Wortratespiel wurde außerdem soeben verkauft, und zwar an die New York Times und ihr legendäres Rätselressort, was einer Art Erhebung in den Adelsstand für Knobeleien gleicht. Die NYT zahlte zwar nur einen "niedrigen siebenstelligen Betrag", wie sie schreibt, woanders hätte Entwickler Josh Wardle bestimmt das Doppelte bekommen, munkelte man gleich bei Twitter. Aber Wardle und seine Frau Palak Shah waren während Corona große Fans des Kreuzworträtsels und der Spelling Bee der New York Times geworden und Wardle fand, es fühle sich "natürlich" an, sein Spiel hierhin zu geben.

Das große Sonntagsrätsel in der New York Times ist so etwas wie eine US-amerikanische Institution. Bill Clinton schrieb einmal an einem mit, Jon Stewart engagierte den verantwortlichen Redakteur, um seiner Freundin via Kreuzworträtsel einen Antrag zu machen. Sich als Connaisseur dieser bestimmten Zeitungsseite zu geben, gehörte lange zum Habitus des Ostküsten-Intellektuellen und tut es womöglich immer noch. Es ist also eine illustre Rätselnachbarschaft für ein kleines, simples Spiel, das erst ein paar Wochen alt ist. Gerüchten zufolge spielen die Kreuzworträtsel sogar eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei, wenn es darum geht, für die Zeitung ein Abonnement abzuschließen. Angesichts dessen scheinen die Sorgen mancher Fans nicht ganz unbegründet, dass Wordle irgendwann hinter der Paywall verschwinden könnte. Aber "vorerst" solle das Spiel kostenlos bleiben, schreibt die New York Times.

Wer es noch nicht gespielt hat: Ziel bei Wordle ist es, ein englisches Wort in sechs Versuchen zu erraten. Es stehen also sechs Reihen zu je fünf Buchstabenkästchen bereit. Man startet mit irgendeinem Wort und bekommt Hinweise: Ist ein Buchstabe richtig, wird das Kästchen grün, ist es der richtige, aber am falschen Platz, wird es gelb und kommt der Buchstabe gar nicht drin vor, bleibt es grau. Nach sechs Runden ist Schluss, ob man das Wort erraten hat oder nicht. Der Clou von Wordle: Es gibt jeden Tag nur ein Wort. Aber man kann sein Ergebnis mit anderen teilen, etwa auf Twitter, dann erscheint die spoilerfreie, also buchstabenlose Abfolge der farbigen Blöcke, mit denen man es zum Ziel geschafft hat.

Klingt simpel. Was ist daran so toll? Wer die Farbkästchen der anderen sieht, dem muss auffallen, dass dieses Spiel interessanterweise eines ist: sehr schön. Die Entwicklungsgeschichte von Wordle ist auch eine von ästhetischen Impulsen. Josh Wardle sagt, er habe die Teilen-Funktion eingerichtet, nachdem ihm aufgefallen sei, dass Menschen versuchten, ihre Kästchenhistorie selbst mit Quadratemojis nachzubauen. Nun enthält eine Teilen-Funktion meist einen Link zum Spiel, aber Wardle fügte keinen ein, nach eigener Aussage, weil es sonst zu "trashig" ausgesehen hätte. So sieht man also wirklich nichts außer ein Muster an Quadraten und das ist schön. Sein ästhetischer Reiz liegt aber auch darin, dass dieses Muster für Eingeweihte ganze Dramen erzählen kann. Geschichten von Glückstreffern und falschen Entscheidungen, Zweifeln, weitermachen, wieder danebenliegen und am Ende vielleicht doch noch darauf kommen.

Ob die Spielgeschichte erfolgreich endet oder nicht, sie endet in jedem Fall. Und damit ist die innere Struktur von Wordle eine elementar andere als die etwa von Candy Crush und seinem endlosen Rausch. Bei Candy Crush gebe es keine Vergangenheit und keine Zukunft, schreibt die Autorin und Journalistin Anne Helen Petersen in ihrem Newsletter Culture Study, nur einen ewigen Strom an "Mikrogewinnen, die sich flach und bedeutungslos anfühlen". Das Spiel macht süchtig, immer weiter räumt man die Candys ab, bis man untergeht, aber am Ende fühlt man sich oft leer. Im Grunde folgten solche Spiele der Logik eines Burnout, schreibt Petersen, immer weiter, nie haltmachen und nie ankommen. Es gibt über 10.000 Level und ständig kommen neue hinzu.

Wordle dagegen will nicht viel von einem. Es will (zumindest noch) kein Abo, keine App, nicht einmal einen Account. Man geht nur auf die Website, löst das Rätsel und dann ist es vorbei. In einer breiten Gegenwart, in der alles irgendwie verschwimmt, gestern und heute, Büro und Zuhause, bietet es Abgrenzung und das Gefühl, etwas getan zu haben, statt immer gerade dabei zu sein, etwas zu tun. "It makes me feel less dead inside", schreibt Petersen.

Vielleicht liegt das nicht nur an seiner Endlichkeit. Wordle hat einen besonderen Spielverlauf. Am Anfang muss man völlig blind ein Wort raten. Dann mehren sich die Hinweise und damit ein Gefühl der Kontrolle. Man ist immer weniger dem Zufall ausgesetzt und kann zunehmend durch Analyse der Lösung näherkommen. Christopher Thi Nguyen, Professor für Philosophie an der University of Utah und Spieletheoretiker, nennt dieses Phänomen "AgencyExpansion". Der Begriff lässt sich schwer übersetzen, aber meint so etwas wie die Handlungsfähigkeit, das Kontrollgefühl der Spielerin wächst im Laufe des Spieles an.

Diesen Effekt kennt man von Kreuzworträtseln, die, während sie sich langsam füllen, zunehmend leichter werden. Oder von Puzzeln, wo man vor einem Haufen Teile vielleicht denkt: Wie soll ich hier jemals zwei finden, die zusammenpassen? Später im Verlauf wächst das Gefühl der Beherrschbarkeit. Bei Wordle ist dieser Effekt besonders stark ausgeprägt. Man kann als erstes Wort zwar eines mit vielen Vokalen wählen, um die Chancen auf Buchstabentreffer zu erhöhen. Aber man muss trotzdem blind raten, hat nicht einmal zwei Puzzleteile oder die Beschreibung eines Begriffs bei einem Kreuzworträtsel, mit denen man anfangen könnte. Aus dieser Kontingenzerfahrung wordlet man sich quasi raus in ein Gefühl von Kontrolle, und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welchen Wert das zu einem Zeitpunkt hat, an dem man die Passivität, in die das pandemische Geschehen einen seit zwei Jahren drängt, kaum noch erträgt.

Vielleicht war es kein Zufall, dass Puzzles die Spiele der Wahl waren in den ersten Lockdownwochen der Pandemie. Wordle hat dieses Prinzip perfektioniert. Selbst noch auf seiner Metaebene. Denn wie viele englische Worte mit fünf Buchstaben gibt es? Josh Wardle und Palak Shah haben etwa 2.500 ausgemacht, die bekannt genug sind, um im Spiel darauf zu kommen. Bei einem Wordle pro Tag mag das genug sein für knapp sieben Jahre. Irgendwann wird das Spiel ganz vorbei sein. Und das ist gut so.

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